Mit dem Frühling kommt die Hoffnung. Während sich der Klimaskeptizismus ausbreitet und der Präsident der SVP die globale Erwärmung als «nichts Schlechtes für die Landwirte» bezeichnet, fällen die Richter*innen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ein historisches Urteil. Das Recht auf eine gesunde Umwelt ist ein Grundrecht. Die Untätigkeit eines Staates beim Klimaschutz gefährdet die Gesundheit seiner Bevölkerung. Das Nichtstun ist daher eine Verletzung der Grundrechte. Für die Schweiz, aber auch für alle Länder des Europarats, hat dieses Urteil eine vergleichbare Bedeutung wie das Pariser Klimaabkommen, das die globale Erwärmung auf 1,5 Grad begrenzen soll.

Bereits 2015 brachten die GRÜNEN die Idee einer Klimaklage ins Spiel, da sie von den schwachen Zielen des Bundesrates für 2020 besorgt waren. Raphaël Mahaim, einer der Anwälte der Klimaseniorinnen und mittlerweile Nationalrat, sagte damals: «Mit einer Klimaklage betreten wir juristisches Neuland.» Wer hätte gedacht, dass die Klimaseniorinnen 8 Jahre spätes diese Klage mit Bravour zum Sieg führen würden?

Ein bindendes Urteil

Neben der Symbolik hat dieser Erfolg eine reale Wirkung. Anders als die Türkei Erdogans ist die Schweiz ein Rechtsstaat, der EGMR-Urteile ernst nimmt. Das zeigt auch die Tatsache, dass der Vertreter der Schweiz in Strassburg sofort klarstellte, dass die Schweiz die Institutionen respektiert und dieses Urteil als bindend und mit Konsequenzen erachtet. Er stützte sich dabei auch auf eine gewisse Erfahrung.

Es ist bei weitem nicht das erste Mal, dass die Schweiz vom EGMR verurteilt wird. Erst kürzlich gab der Gerichtshof einem Witwer Recht, der gegen die Ungleichbehandlung der Geschlechter beim Erhalt der Witwer- respektive Witwenrente klagte. Der Bundesrat ist daran, diese Diskriminierung aufzuheben und hat eine Gesetzesänderung in die Vernehmlassung geschickt. Und die Demokratie geht in diesem Geschäft weiter.

Auch die WählerInnen haben sich bereits zum EGMR bekannt. Im Jahr 2018 bestätigte das Volk mit 66% den Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention und zum EGMR als es im gleichen Zuge eine SVP-Initiative hauchhos verwarf. Man fand keinen Kanton für diese Abschottungsinitiative. Das zeigt: Wir betrachten den Schutz der Grundrechte als einen unabdingbaren Wert der Demokratie und die Unabhängigkeit der Justiz als ein hohes Gut unseres Rechtsstaates, der aus einem sensiblen Gleichgewicht zwischen Macht und Gegenmacht besteht.

In Bezug auf das Klima verlangt der EGMR, dass die Schweiz in allen Bereichen verbindliche Ziele festlegen muss. Die Schweiz kann jedoch frei entscheiden, wie sie das Urteil umsetzen will. Die Massnahmen müssen natürlich den demokratischen Prozess durchlaufen.

Unglaublich: Die Schweiz kennt ihr aktuelles Kohlestoff-Budget nicht

Wie geht es jetzt weiter? Die Voraussetzung für jede Klimapolitik ist, die Ausgangslage zu kennen und transparent mit ihr umzugehen. So unglaublich es auch klingen mag, das ist heute nicht der Fall. Daher muss ein vollständiges und genaues CO2-Budget für die Schweiz erstellt werden. Wir müssen genau wissen, wie viele Treibhausgase wir bereits ausgestossen haben und wie viele wir noch zur Verfügung haben, gemessen an unserer Bevölkerung und unserer historischen Verantwortung als reiches Land. Der EGMR macht ausserdem auf die Rolle der grauen Emissionen, d. h. der importierten Emissionen, aufmerksam. Beispielsweise haben wir in der Schweiz keine Automobilindustrie, aber wir kaufen viele Autos ein. Das hat einen Einfluss, der berücksichtigt werden muss.

Wir GRÜNE schlagen auf politischer Ebene Lösungen vor. Wir fordern eine parlamentarische und demokratische Debatte, die über die zu ergreifenden Massnahmen entscheidet. Und wir setzen uns dafür ein, dass die Massnahmen auch beim Finanzplatz und beim Flugverkehr, die unsere Klimabilanz stark belasten, greifen.

Heute werden einerseits Klimaziele verabschiedet und gleichzeitig Infrastrukturen entwickelt, die diese Ziele untergraben. Dies ist zum Beispiel bei sechsspurigen Autobahnen der Fall, die unser Kulturland verschlingen. Die Abstimmungen über diese Projekte werden Gelegenheit bieten, den Kurs zu korrigieren. Auf dass der Frühling, der auf unsere Kinder wartet, in voller Blüte spriesst.